I. Generelle Eigenschaften und bisherige wichtige Anwendungen borreicher Festkörper
Bor und
Borverbindungen zeichnen sich durch folgende Eigenschaften schon auf den
ersten Blick gegenüber anderen Materialgruppen aus:
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Sehr hohe Schmelzpunkte (typisch > 2300 K),
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Große Härte (beta-rhomboedrisches Bor ist nach dem Diamanten der zweithärteste Elementkristall und Borkarbid nach dem Diamanten und kubischem Bornitrid der dritthärteste bekannte Festkörper),
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Geringe Dichte (typisch 2.5 g/cm3),
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Kleine thermische Ausdehnung (typisch 5×10-6/K),
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Hohe chemische Resistenz und entsprechend geringe Korrosivität,
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Hoher Absorptionsquerschnitt des 10B-Isotops für Neutronen ,
Wichtige, auf diesen Eigenschaften basierende Einsatzbereiche sind bisher:
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Preisgünstige Schleif- und Poliermaterialien,
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Werkzeuge zur Bearbeitung harter Materialien,
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Oberflächenhärtung von Metallwerkzeugen,
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Panzerung von Personen und Hubschraubern bei geringem Gewicht,
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Faserverstärkung von Polymeren,
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Abschirmung von Neutronenstrahlung,
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Kontrollstäbe in Kernreaktoren,
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Industrielle Sonderkeramik (Düsen für Sandstrahlgebläse, Turbolader usw.)
Einige dieser Beispiele verdeutlichen, dass borreiche Festkörper unter Extrembedingungen eingesetzt werden können, die für die meisten anderen Festkörper unzugänglich sind. Allerdings sind diese Chancen bisher nur wenig genutzt worden. Ein Grund dafür ist, daß systematische Untersuchungen der Eigenschaften insbesondere im Zusammenhang mit der Struktur bisher unzureichend sind.
II. Was macht die Untersuchung der borreichen Festkörper für den Physiker interessant?
Die verschiedenen Modifikationen des elementaren Bors und zahlreiche seiner Verbindungen werden unter dem Begriff "borreiche Festkörper" zusammengefasst. Diese besitzen eine enge Verwandtschaft im Hinblick auf ihre Kristallstrukturen: Viele Strukturen weisen B12 Ikosaeder oder daraus abzuleitende Atomgruppen als gemeinsame Elemente auf. Da diese Ikosaeder entscheidend die elektronische Struktur dieser Festkörper und damit auch ihre chemische Bindung bestimmen, sind Ähnlichkeiten ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften zu erwarten. Diese Annahme kann als inzwischen als erwiesen angesehen werden.
Damit bietet die Vielfalt verschiedener Strukturfamilien der borreichen Festkörper, die erhebliche Zahl von verschiedenen chemischen Verbindungen innerhalb der einzelnen Strukturfamilien, die z. T. beträchtlichen Homogenitätsbereiche dieser Verbindungen sowie die Möglichkeiten zum Einbau von Fremdatomen durch Substitution und auf Zwischengitterplätzen eine hervorragende Voraussetzung, um die bisher weitgehend unverstandenen grundlegenden Mechanismen physikalischer Eigenschaften in solch komplexen Kristallstrukturen und ihre Beeinflussung durch die verschiedenen strukturellen Parameter systematisch zu untersuchen und aufzuklären. Einige neuere, besonders interessante Ergebnisse dieser Grundlagenforschung seien genannt:
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Als verantwortlich für die generelle Verzerrung der regulären Ikosaeder wurde der Jahn- Teller-Effekt nachgewiesen, der gleichzeitig dazu führt, dass die borreichen Festkörper trotz ungerader Elektronenzahl der Boratome Halbleiter sind.
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Der Ladungstransport ist durch eine Überlagerung von normaler Bandleitung und von hopping-Prozessen zu erklären, von denen je nach den physikalischen Messbedingungen einer dominieren kann und damit das Messergebnis bestimmt.
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Die Beweglichkeit der Ladungsträger wird durch Elektron-Phonon-Wechselwirkung geprägt. Es treten auch bei höheren Temperaturen physikalische Effekte auf, die bei klassischen Halbleitern nur bei sehr tiefen Temperaturen gefunden werden.
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Sowohl freie Elektronen wie auch Defektelektronen in beta-rhomboedrischem Bor bilden bei ihrer Ausbreitung in elektrischen Feldern Solitonen aus.
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Borkarbid besitzt als einziger bisher bekannter Halbleiter einen bis zu über 2000 K monoton ansteigenden Seebeck-Effekt, d.h. die bei Halbleitern im Bereich hoher Temperaturen generell auftretende Eigenleitung wird nicht erreicht. Dies ist für thermoelektrische Anwendungen von großer Bedeutung.
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Es konnte nachgewiesen werden, dass die bisher ungeklärten elektronischen Eigenschaften der auf Aluminium und Gallium basierenden ikosaedrischen Quasikristalle eine große Ähnlichkeit mit den elektronischen Eigenschaften der borreicher Festkörper aufweisen, welche offensichtlich auf die in beiden Fällen vorhandenen ikosaedrischen Strukturelemente zurückzuführen ist.
Das Verständnis der physikalischen Festkörpereigenschaften und ihrer Beeinflussung durch verschiedenartige Modifikation der Strukturen ist nicht nur von physikalischem Interesse, sondern auch für potentielle Anwendungen der Festkörper mit Ikosaederstruktur von großer Bedeutung, denn es bietet die Voraussetzung, ihre Eigenschaften für spezielle Anwendungen gezielt zu optimieren, ohne die eingangs genannten generellen Eigenschaften der borreichen Festkörper wesentlich zu beeinflussen.
Für die Halbleiterphysik/Festkörperphysik steht die Nutzung der spezifischen elektronischen Eigenschaften im Vordergrund des Interesses. Aus heutiger Sicht bieten sich z.B. folgende konkreten Anwendungen für die borreichen Festkörper an, auf die auch im Rahmen der laufenden Grundlagenforschung gezielt hingearbeitet wird:
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Die direkte thermoelektrische Energieumwandlung von industrieller Abwärme und von Solarenergie mit hohem Wirkungsgrad.
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Die Herstellung von langlebigen Temperaturmesssonden zum Einsatz unter Extrembedingungen.
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Die Herstellung elektronischer Bauelemente zum Einsatz bei hohen Temperaturen, hohen Photonenenergien und hohen Frequenzen (wide-gap-Halbleiter).